Die Welt / WeltN24, November 28 2015
Auf seiner Flucht nach Deutschland entdeckt der Syrer Omar den modernen Tanz. Seine neue Leidenschaft hilft ihm, den Krieg in seiner Heimat zu verarbeiten. Einige seiner Freunde finden das albern.
Omar Meslem Ikrose sitzt in einem Café in Osnabrück und trinkt Kiba. Mit Hunderttausenden seiner Landsleute teilt der Syrer das Schicksal, nach Deutschland geflohen zu sein. Aber er hat eine besondere Geschichte zu erzählen: Omar hat tanzen gelernt, modernen Ausdruckstanz – und er beherrscht ihn so gut, dass er inzwischen auf einer deutschen Bühne auftritt.
Seine Heimat Syrien hat Omar verloren. Aber der Tanz hilft ihm in der Fremde. „Inzwischen ist er mir in Fleisch und Blut übergegangen“, sagt der 29-Jährige, der im 45 Minuten entfernten Aufnahmelager Bramsche untergekommen ist. Omar hat viele Grenzen überwunden und dabei eine „Sprache ohne Grenzen“ entdeckt, wie er selbst ausdrückt.
Eigentlich ist Omar Konditor. In Aleppo arbeitete er oft 14 Stunden am Tag. Doch 2011 begann der Bürgerkrieg in der Stadt, und der Alltag wurde lebensgefährlich. Er berichtet von Kämpfen und Schießereien in den Straßen. Der Betrieb in der Bäckerei wurde fast lahmgelegt. Häufig fiel der Strom aus, es mangelte an Zutaten.
Ständig machte sich Omar Sorgen, dass jemand aus seiner Familie – die Eltern, vier Schwester und ein Bruder – auf dem Weg zur oder von der Arbeit oder beim Einkaufen tödlich verletzt würde. Als Kurden litten sie schon vor dem Krieg unter der Diskriminierung durch die Regierung. „Die Situation war unerträglich. Also mussten wir unser geliebtes Zuhause und unsere geliebte Stadt verlassen“, sagt Omar.
Omar war der Erste, der aufbrach. Er traf sich mit einem Schlepper, der ihm sagte, die Reise koste ihn über 7000 Euro. Das Geld konnte die Familie nur dadurch aufbringen, dass sie ihr Haus verkaufte – „weit unter Wert“, wie Omar meint.
Das Tanzen ließ die Sorgen verschwinden
Anfang 2014 begann die Reise. Omar überquerte die syrisch-türkische Grenze im Auto. Dann wurde er vom Schlepper mit anderen Flüchtlingen in einen Bus nach Istanbul gesetzt, die Fahrt dauerte 20 Stunden. Die Nacht verbrachten die Syrer in einem Hotel, das – wie Omar im Gedächtnis behielt – extrem dreckig war: „Bettwanzen krabbelten unter den Kopfkissen.“
Im Morgengrauen brachte dann ein zweiter Schlepper die inzwischen 30 Flüchtlinge an den Evros, den Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland. Mit zwei Schlauchbooten versuchten sie überzusetzen; eines kenterte wegen der Strömung.
Doch die Flüchtlinge erreichten das sichere Ufer. Omar erinnert sich: „Dort haben wir uns kurz im Gestrüpp ausgeruht und den Schlepper angerufen. Er sagte uns, geht weiter. Auf der anderen Seite des Berges sei eine Meldestelle für Flüchtlinge – kehrt nicht zurück, auch nicht, wenn die Polizei euch zurückzudrängen versucht.“ So kam es auch. „Zwei Stunden lang haben wir Widerstand geleistet. Schließlich nahm uns die Polizei mit zur Meldestelle und stellte uns Papiere für einen einzigen Monat aus. Danach, sagten sie, müssten wir nach Syrien zurück.“
Mehrere Versuche, in Richtung Deutschland weiterzukommen, scheiterten. Omar wurde sogar in Thessaloniki einmal inhaftiert. „Ich verbrachte 45 Tage im Gefängnis“, erinnert er sich an diese finstere Zeit. Erst einmal beschloss er aufzugeben und kehrte nach Athen zurück. „Alles war schwierig in Griechenland, auch schon für die Griechen – aber für Flüchtlinge war es unmöglich“, berichtet Omar.
Gleichwohl bezeichnet Omar viele Griechen als „herzliche Menschen“. So auch einen Tanzlehrer, den der junge Syrer in einem Zentrum für Flüchtlinge traf. Dieser lud ihn zu seiner Klasse ein. Der Unterricht habe ihn, so Omar, erst ein wenig stutzig gemacht, weil er bislang ja nur den traditionellen Volkstanz der syrischen Kurden bei Hochzeiten gekannt habe – und doch habe ihn schnell eine Faszination für den modernen Tanz ergriffen. „Als ich zuerst zu tanzen anfing, fühlte ich mich schüchtern und gehemmt. Aber als ich weitertanzte, verschwanden plötzlich all die Sorgen, die mich unaufhörlich plagten. Ich fühlte mich zum ersten Mal seit Anfang des Krieges unbeschwert, leicht.“
Hadern mit der „Monotonie im Camp-Alltag“
Dennoch blieb es Omars Ziel, nach Deutschland zu kommen. Immer wieder kontaktierte er seinen Schleuser, um zumindest einen Teil seines Geldes zurückzubekommen – was schließlich nach langem Drängen sogar gelang. Inzwischen waren die Grenzen weitgehend offen und der Weg nach Deutschland frei. So kaufte sich Omar im August dieses Jahres eine Fahrkarte und fuhr mit einem Freund per Bus nach Hamburg. Dort ließ er sich als Asylbewerber registrieren – und wurde nach Bramsche in Niedersachsen geschickt.
„Ich war traurig, weil ich gehört hatte, dass der Asylprozess woanders schneller ging.“ Als Omar in Bramsche ankam, staunte er darüber, wie voll das Lager war. 4000 Menschen lebten dort zurzeit. Er habe am Anfang in einem Zelt mit 500 anderen Menschen geschlafen. „Es gab nichts zu tun – keine Schule oder Deutschunterricht.“
Warum Tanzen praktische Flüchtlingshilfe ist
Das Breakdance-Duo „Tom2Rock“ animiert in einem Flüchtlingsheim Kinder zum Tanzen. Für die Brüder ist das Projekt eine Herzensangelegenheit. Sie kamen vor Jahren selbst als Flüchtlinge nach Deutschland.
In der Zwischenzeit hatte allerdings eine Choreografin in Griechenland eine Freundin in Berlin kontaktiert: Rachel Clarke, eine schottische Autorin und Schauspielregisseurin, die seit 20 Jahren in der Stadt lebt. Sie hatte Omar zwar bei einer Nacht-Performance an einem griechischem Strand tanzen sehen, aber sie waren einander nicht vorgestellt worden. Heute erinnert sich Rachel: „Ich sagte, ich wusste nicht, ob ich Omar helfen könnte. Ich kannte ihn ja nicht.“
Über Facebook kam dann der Kontakt zwischen der Schottin und dem Syrer zustande. „Je mehr ich über ihn erfuhr, desto mehr ging es mir nah, was ihm passierte. Ich dachte, wenn er wenigstens tanzen könnte, leidet er nicht so sehr unter der Monotonie im Camp-Alltag“, erzählt Rachel. Und so schlug sie Omar vor, doch vor Ort eine Tanzgruppe zu gründen. An die Antwort erinnert sie sich noch genau: „Er erwiderte: ,Rachel, hier gibt’s nicht einmal genug Platz, um zu schlafen oder sich um die eigene Achse zu drehen, also wie in aller Welt soll ich bloß tanzen?‘“
Das perfekte Projekt für den Syrer
Auch wenn sie anfangs gezögerte habe, fasste Rachel bald den Entschluss, Omar zu sich nach Berlin kommen zu lassen. Er dürfe bei ihr bleiben, und sie fände für ihn einen Ort zum Tanzen. Und sie wurde schnell fündig. „Das Theater Strahl hat ein Tanzensemble für junge Migranten“, berichtet Rachel. Die Theaterpädagogin Charlotte Baumgart, die die Gruppe anleitet, sei sehr aufgeschlossen gewesen und habe Omar sofort dazu eingeladen, mitzutanzen. In Bramsche konnte er schließlich eine Sonderreiseerlaubnis bekommen, die ihm als Flüchtling die Möglichkeit gab, für einige Zeit in die Hauptstadt zu fahren.
Dort angekommen, nahm ihn Rachel mit zu Charlotte Baumgart und ihren Tänzern, Omar durfte mittanzen. Rachel selbst thematisierte in einem Theaterworkshop zu „Flucht und Asyl“ das Schicksal Omars. „Wir stellten Szenen von der türkischen Grenze zu Griechenland dar und Omars Versuch, die Grenze in Schlauchbooten zu überqueren“, erzählt die Regisseurin über ihre Kalsse in einer Fachschule im Süden Berlins.
ICH DACHTE, WENN ER KEINEN DEUTSCHUNTERRICHT UND KEINEN TANZ HÄTTE, DREHT ER DURCH
RACHEL CLARKE,
Schottische Schauspielregisseurin in Berlin
Am Ende des Workshops baten Teilnehmer ihren Gast aus Syrien darum, seine eigene Geschichte zu tanzen. Omar stellte seine Reise dar. „Da staunten wir alle“, sagt Rachel. „Omar hat es durch den Tanz geschafft, die Grenzen der Angst und Skepsis zu durchbrechen, und es hat jeden berührt.“
Inzwischen lief Omars Sonderreiseerlaubnis aus. Deshalb suchte Rachel im Internet nach Tanzprojekten in der Nähe von Bramsche. „Ich dachte, wenn er keinen Deutschunterricht und keinen Tanz hätte, dreht er durch.“ Die Schottin entdeckte einen Artikel über das Projekt „Biografia del Corpo“ am Theater Osnabrück. Passender ging es nicht: Das professionelle Tanzensemble untersucht künstlerisch, wie die Biografie eines Menschen auf seinen Körper wirkt.
Und was, wenn Freunde das albern finden?
So kam es, dass Tanzdramaturgin Patricia Stöckemann Omar zur Probe einlud. Und er tanzte in Anwesenheit der Choreografen und Dramaturgen des Tanztheaters. Rachel berichtet, wie froh die Gruppe nun ist, „Omar mit dabei zu haben, weil sie lange nach Flüchtlingen gesucht hatten, die bereit wären, an diesem Projekt teilzunehmen“. Auf viele Syrer wirke eben die Vorstellung „ziemlich albern“, dass ein Mann sich auf diese Weise auf einer Bühne bewegen soll.
Omar kennt das Gefühl auch bei einigen seiner Freunde. Westlicher moderner Tanz sei eben eine ungewöhnliche Beschäftigung für einen syrischen Mann. „Mir ist das aber egal.“ Fünfmal pro Woche fuhr er in der Probenzeit von Bramsche ins 45 Minuten entfernte Osnabrück. Am 21. November war Premiere für das Ensemble, dem professionelle Tänzer aus vielen Ländern Europas, aus Taiwan und Malaysia angehören.
Omar hofft inständig darauf, dass das erst der Anfang seines neuen Lebens in Deutschland ist. Noch wartet er auf die Anhörung zu seinem Asylantrag. Wenn er darf, will er arbeiten, seine Familie an einem sicheren Ort wieder zusammenführen. Bis dahin wird er Projekte suchen, bei denen er das tun kann, was ihm trotz aller Widrigkeiten immer wieder neue Energie gibt: „Ich werde weiterhin tanzen, jeden Tag.“
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